“Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig,
der Herr, euer Gott.” (3. Mose 19,2)
work in progress,
laminierte Figur, lebensgroß
+ digitaler Bilderrahmen (100 Portraits)
No.1 Frauenkirche, Nürnberg, März 2010
No.2 Herz-Jesu-Kirche, Erlangen, Allerheiligen 2011
No.3 Bamberger Dom, April 2014, anlässlich der Heiligsprechung der Päbste Johannes XXIII und Johannes Paul II
No.4 St. Hedwigs-Kathedrale, Berlin, Dezember 2017
Bitte beachten Sie zu diesem Projekt auch die aktuelle Website heilig, jetzt!
Portraitaufnahmen für die Heiligenfigur von Uwe Niklas. Photographie von Uwe Niklas, Michael Zirn und Chandra Moennsad.
Eine Heiligenfigur ganz aus Wertstoff –
mit einem digitalen Bildschirm als Gesichtsfeld, auf dem im 30-Sekundentakt 100 Portraits erscheinen.
Heilig?
Was ist das? Und wer ist das?
Wir alle, die wir in der Nachfolge Christi unterwegs sind, sind heilig.
Und warum gibt es dann Heilige? Sind die noch heiliger? Und warum?
Eva Brenner geht es in ihrer Arbeit darum, die uns fremd und unverständlich gewordene
Ikonografie der Vergangenheit in die Gegenwart zu übersetzen.
Eva Brenner, Jahrgang 1963, studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg bei Prof. Hanns Herpich und Prof. Ottmar Hörl.
Der Korpus der Heiligenfigur besteht aus der Kunstgeschichte des Abendlandes
(„Art“-Hefte, Jahrgang 1982-1992, chronologisch sortiert, extrahiert, einlaminiert und nach
den Kriterien hell/dunkel und kalt/warm neu angeordnet und vernietet).
Die Gloriole/der Heiligenschein erstrahlt aus laminiertem Zivilisationsmüll, Kaffeevakuum-
verpackungen, Schoko- und Bonbonpapierchen.
Das Gesichtsfeld der Figur enthält einen digitalen Bildschirm. Auf diesem erscheinen
100 Porträtaufnahmen, die als Endlosschleife im 30-Sekundentakt aufeinander folgen.
Die Porträts werden jeweils in einem Photoshooting vor Ort aufgenommen,
die Einladung dazu richtet sich an jederman.
work in progress
laminierte Figur, lebensgroß
+ digitaler Bilderrahmen (100 Portraits)
No.1 Frauenkirche, Nürnberg, März 2010
No.2 Herz-Jesu-Kirche, Erlangen, Allerheiligen 2011
No.3 Bamberger Dom, April 2014,
anlässlich der Heiligsprechung der Päbste Johannes XXIII und Johannes Paul II
No.4 St. Hedwigs-Kathedrale, Berlin, Dezember 2017
Einführungsrede von Prof. Dr. Heimo Ertl zu
Eva Brenners Skulptur „Moderne Heilige“
im Bamberger Dom, am 27.4.2014
Meine Damen und Herren, Rainer Maria Rilke lässt in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ Malte sagen: „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ Und einen Absatz später greift Malte diesen Gedanken noch einmal auf, indem er fragt: „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame,einfache Leute. Sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. (…) Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem anderen, und tragen sie ab.(…) Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.“
Diese Passage fiel mir ein, meine Damen und Herren, als ich zum ersten Mal Frau Brenners Skulptur „Moderne Heilige“ mit den 100 Gesichtern sah, die hier in Herz Jesu ausgestellt ist. Und ich kam mir vor wie Malte, ich „lernte sehen“. Ihr Kunstwerk setzte bei mir eine neue „Sichtweise“, Gedanken über Kunst und Heilige in Gang, über die ich als Katholik heute mit Ihnen selbstkritisch und konfessionsverbindend sprechen möchte – am Reformationstag und Vortag von Allerheiligen doch kein schlechtes Thema – die Heiligen und die Kunst. Kunst ist heute ja nicht mehr, wie Marc Chagall formulierte, der „unaufhörliche Versuch, mit der Schönheit der Blumen zu konkurrieren“. Die Kunst unserer Zeit strebt nicht nach dem Prädikat „schön“, wie immer man das heute definieren würde. Sie möchte vielmehr aufregend, spannend, intelligent, verstörend, schockierend, ja, provozierend sein, aber nicht „schön wie eine Blume“.
„Pro-vozieren“ heißt so viel wie „hervor-rufen“, „heraus-fordern“. Ein Kunstwerk, das provoziert, fordert uns aus unseren gewohnten Denkstrukturen, „An-sichten“ und Positionen heraus, verlang Stellungnahme statt genüsslichen Genießens, verstört vielleicht durch die damit verbundene Verunsicherung. Was Frau Brenners Installation in uns provoziert, hängt weitgehend von uns ab. Denn „die Kunst ist(gar) nichts“, sagt Ben Willikens, „solange sie nicht durch den Dialog, die Kommunikation mit dem Betrachter eingelöst wird. Und sie schlummert noch lange in diesem ihrem Nichts, solange der Betrachter mit seiner Arbeit, dem Schauen, nicht fertig ist.“
Was gibt es zu schauen? Zunächst, glaube ich, wird unser Blick gefangen von dem Mosaik aus Farbpartikeln, die glänzend wie ein kostbares Tuch einen gewölbten Korpus bekleiden, der an einen Mumiensarkophag erinnert. Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass zahllose kleine Ausschnitte aus Gemälden unterschiedlicher Epochen, aneinander gefügt, diesen Effekt hervorrufen, der den Eindruck von etwas Wertvollem, Ehrwürdigen und Geheimnisvollen ausstrahlt. Podest auf der Höhe der gegenüber stehenden Herz-Jesu-Statue unterstreicht ihre Wertigkeit.
In der Nähe der Stelle, an der sich auf der Mumie das Porträt des Pharao befindet, leuchten auf einem Bildschirm in regelmäßigen Abständen unablässig Gesichter von Mitgliedern dieser Pfarrei auf. Eines nach dem anderen, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, Fröhliche, Nachdenkliche, Neugierige und Abgeklärte. Einhundert Gesichter, 100 Menschen. Jedes dieser Bilder sagt mehr als 1000 Worte über die Erfahrungen von Hoffnungen und Enttäuschungen, über Sehnsüchte und Erfüllungen, über Strapazen und Belohnungen, kurz, über „das Einmalige, Einzigartige, Unausschöpfbare, Bodenlose, das Rätsel, das einen Namen hat“, wie der Karlsruher Künstler Emil Wachter das Geheimnisvolle des menschlichen Antlitzes einmal beschrieben hat.
Die Kombination von archaisch anmutendem Korpus und Flachbildschirm mit elektronischen Bildersequenzen irritiert. Sie provoziert formal-ästhetische Fragen und die Frage, was diese Art der Darstellung macht im Hinblick auf die Bilder von Heiligen, die wir in unseren Köpfen haben, oder soll ich sagen hatten? Im Mittelalter hat man die Heiligen auf Goldgrund gemalt, Symbol für die Ewigkeit, oder man hat sie in ihren goldstarrenden Gewändern auf Podeste gesetzt. Auf diese Weise wurde künstlerisch ihre Andersartigkeit ausgedrückt. (Das klingt in Frau Brenners Gestaltung noch an, wird aber durch die Bildershow „gebrochen“.) Von Menschen nicht viel übrig. Am deutlichsten wurde in der Reformation die Axt an die Heiligenverehrung gelegt. Luther beseitigte nämlich nicht nur die missbräuchlichen Auswüchse des zeitgenössischen Heiligenkults. Ihn störte, dass, wie er sagte, „die Leute mehr Zuversicht auf die Heiligen setzen als auf Christus selbst“. So schaffte er die Heiligenverehrung ganz ab mit der Begründung: „Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Vermittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus“. Ab 1530 sah das „Augsburger Bekenntnis“ nur noch vor, der Heiligen zur „Glaubensstärkung zu gedenken“ und sich „an ihren guten Werken ein Beispiel zu nehmen“.
Heute, geben wir es zu, scheinen die Heiligen aber auch in unserer Kirche nicht mehr recht gefragt zu sein, oder, wie Walter Nigg es liebenswürdiger formuliert: “Es ist merkwürdig still um sie geworden.“ Sie entschwanden weitgehend aus der religiösen Praxis der katholischen Christen und, wo der Denkmalschutz es nicht verhinderte, auch aus vielen Kirchengebäuden selbst. Aus den Augen, aus dem Sinn? Mancherorts hat man ihnen quasi als Austragsstüberl einen Platz im Pfarrsaal zugewiesen, was aber eher unter raumgestalterischen oder innenarchitektonischen Gesichtspunkten geschehen sein dürfte, als dass man sich von diesem Ortswechsel eine Belebung der Heiligenverehrung erwarten würde. Dieser Umgang mit den Heiligen – ein Bild für das Verdämmern dieser Gestalten im Bewusstsein der Kirche?
„Fürbitte, Wundermacht und Reliquien der früher so verehrten „Nothelfer“, der Kirchen-, Namens- und Standespatrone“, spielen „eine immer geringer werdende Rolle im Glaubensleben moderner Christen“ klagt Peter Manns in seinem Buch „Die Heiligen in ihrer Zeit“. Maria ist von dieser Entwicklung, zumal in Süddeutschland, nicht ganz so drastisch betroffen, aber wenn man die Marienstatuette sieht, so sie einem überhaupt auffällt in der großen Herz-Jesu-Kirche, drängt sich einem vielleicht doch der Eindruck auf, dass auch sie den bereits dem Blick entschwundenen anderen Heiligen hinterher eilt.
Natürlich ist weder die Reformation noch der Rationalismus daran schuld, dass die Heiligen heutzutage bei uns nicht mehr Konjunktur haben. Auch ihre falsche Stilisierung in Theologie und Kunst hat, so meine ich, dazu beigetragen.Die gut gemeinte, aber nicht gute unwahre Schönfärberei ihrer Viten durch Hagiographien hat die Heiligen vielfach zu eindimensionalen, blutleeren, unlebendigen Gestalten gemacht, die den modernen Christen nicht mehr ansprechen. Und die bildende Kunst hat – insbesondere durch ihre Epigonen – Stereotypen als Heiligen- bilder in die Welt gesetzt, bei denen ein blauer oder roter Mantel an einer Gestalt schon ausreichten, um beim Betrachter den Reflex Maria oder Jesus auszulösen. Rilkes Malte Laurids Brigge würde diese Heiligendarstellungen in die Gruppe derer einreihen, die nur EIN Gesicht haben, jahre-, jahrhunderte lang getragen, in den Falten gebrochen, abgenutzt.
Dabei zeigen historisch-kritische Zeugnisse mancher Heiliger, dass sie sehr wohl „viele Gesichter“ hatten, dass sie, zum Teil über lange Strecken ihres Lebens, keineswegs ein „Idealmensch“ oder „Ausbund an Tugendhaftigkeit“ waren. Im Gegenteil, viele „Vollblut- Heilige“ waren alles andere als bequeme Christen, und die Kirche hat manchem von ihnen den „Aufstieg zur Ehre der Altäre erheblich erschwert“ (Peter Manns).
Die Vielfalt der Heiligen-Individuen drückt die von Frau Brenner vorgenommene zufällig und willkürlich wirkende Aneinanderreihung von Einzelbildern auf dem Korpus und ihre Vernetzung mit einander aus. Zum einen symbolisieren die Bilderszenen mit Menschen aus verschiedenen Epochen die im Laufe der Geschichte gewachsene große Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir uns im Glaubensbekenntnis zugehörig bekennen. Jedes dieser kleinen Bilder stellt für mich sozusagen eine Facette dessen dar, wie eine ganz konkrete Person ihr Heiligwerden und Heiligsein gelebt hat – auf ihre unverwechselbare, einmalige und einzigartige Weise. Es gibt nicht den Heiligen als solches, als Typ,sondern immer nur ganz konkrete Menschen, die in ihrer Zeit auf die jeweiligen Herausforderungen ihr Leben so radikal in den Dienst Gottes und der Welt stellten, dass man sie sozusagen als gelebtes Evangelium bezeichnen kann. Die Zusammenschau dieser Facetten öffnet den Blick für den Reichtum der kanonisierten Heiligen und ist ständig und differenziert zu justieren. Es ist ein wirkungsvolles Paradox, dass gerade die Vielzahl der Porträts, die wechselnden Gesichter, die hundert Bilder, die gemacht wurden, davor warnen, „sich ein Bild zu machen“, nur ein Bild zu machen.
Die Porträts der Gemeindemitglieder haben für mich aber noch eine weitere Botschaft. Wir alle, die wir getauft sind, haben durch die Salbung mit Charisma teil am Königtum, Priestertum und Prophetentum. Für uns alle gilt, was im 1. Korintherbrief steht und was uns mit den evangelischen Christen verbindet, nämlich, dass wir in der Taufe durch Christus und den Geist Gottes bereits „geheiligt“ sind: “Ihr alle seid geheiligt“, heißt es da. (1. Kor. 6, 11). Dieses Wort erinnert uns daran, dass die „Gemeinschaft der Heiligen“ des Glaubensbekenntnisses nie nur eine Art geschlossene Gesellschaft, einen Exklusivclub „da oben“ im Himmel gemeint hat, sondern uns Lebende einschließt. Insofern lenken die Gesichter der Gemeindemitglieder unseren Blick nach unten, auf uns und unseren Lebensweg.
Der Bildschirm, das fällt auf, ist nicht da angebracht, wo der Kopf einer Mumie seinen Platz hätte, sondern seitlich links nach unten versetzt , dort, wo beim Menschen das Herz schlägt. Von da schauen uns die Gesichter an – Aufforderung, „lebendig“ und belebend in unseren Gemeinden, in der Welt, die Zusage „Ihr alle seid geheiligt“ umzusetzen?
Meine Damen und Herren, die hier ausgestellte Skulptur ist wie jedes Kunstwerk von ihrem Wesen her dialogisch, auf ein Gegenüber, einen Betrachter, eine Betrachterin angelegt, sagte ich einleitend. Die ästhetische Konzentriertheit dieser Installation, ihre ungewöhnliche Formensprache und ihr Abstraktionsgrad sind keine Einladung zum „small talk“. Vielmehr erfordern sie unsere Aufmerksamkeit, sind buchstäblich „anspruchsvoll“, wie eben ein guter Dialog, bei dem man, wenn man Glück hat, sich Stück für Stück näher kommt und das Verständnis wächst, wo man sich also nicht einfach handstreichartig der Position des Gegenübers bemächtigen kann. Die Installation mit ihrem Materialmix, die reduzierte starre Körperform in Verbindung mit den rhythmisch wechselnden Gesichtern auf dem Bildschirm fordern uns auf, sie wahrzunehmen und über die eigene Wahrnehmung nachzudenken, sich einzulassen auf das, was Marcel Proust als „eigentliche Entdeckungsreise“ des Menschen bezeichnet. Die, so sagt er, besteht nämlich nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, das scheinbar Vertraute mit anderen Augen zusehen, zu „entdecken“, vielleicht wieder zu entdecken. Auch hier gilt: Der „Sinn“ eines Kunstwerkes hängt wesentlich davon ab, ob und wie sich der Betrachter, die Betrachterin, mit offenen Augen und Sinnen darauf einlässt. Ein schnelles Urteil urteilt – wie so oft – nur über uns.
Lassen Sie mich noch einmal Rainer Maria Rilke zitieren. Er schreibt in seinem berühmten Gedicht „Archaischer Torso Apollos“, was dem widerfahren kann, der sich auf die Begegnung mit einem Kunstwerk mit allen Sinnen und offenen Augen einlässt, in seinem Falle auf die Betrachtung des hinreißend schönen Marmortorsos einer antiken Apollo-Statue. Die faszinierte Bewunderung dieses Kunstwerks bewirkt, dass sich plötzlich die Rollen von Betrachter und Betrachtetem umkehren. Es ist jetzt der Stein, in dem sich „sein Schauen, nur zurück geschraubt, hält und glänzt“. Er flimmert „so wie Raubtierfelle“ und „bricht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern“.
Das Gewand der Heiligkeit von Thilo Westermann zu
Eva Brenners Kunstprojekt „heilig, jetzt!“
Als originär westliches Projekt hat die Philosophie über die Jahrhunderte hinweg mystisch-religiösen Tendenzen den Rang abgelaufen und dominiert weiterhin die gegenwärtige Gesellschaft. Philosophie kann die Grundlagen der Theologie nicht als rational und somit argumentierfähig anerkennen, denn indem sie unter der Maxime der Rationalität unentwegt nach Erkenntnis ringt, fehlt ihr das notwendige Instrumentarium, das nur Geglaubte, Gefühlte oder empirisch kaum Nachweisbare als wahr gelten zu lassen. Sie führt damit die überlieferte Lehre von der Herrlichkeit Gottes nicht unreflektiert weiter, sondern hinterfragt diese kritisch auf ihre Grundlagen um sie als schwankende, inakzeptable Fundamente eines jeden Glaubensgebäudes zu entlarven. Nach den Regeln der Logik kann der eine Gott ebenso wenig wie verschiedene Gottheiten nachgewiesen werden. So bleibt die Wahl, ob und an was geglaubt wird, für jeden Mensch ein persönlich zu entscheidendes Dilemma.
Die Ablösung des dunklen Zeitalters gnadenlos oktroyierter Glaubensdoktrinen durch aufgeklärte Religionsfreiheit machte einen neuen Regelkanon für gelingendes Zusammenleben notwendig, der sich nicht mehr durch Gottes Gnaden, sondern als ethisch-philosophische Denkarbeit legitimierte. Die Gleichheit aller Menschen als Basis demokratischer Gesellschaftsformen definiert sich dabei heute unabhängig von Abstammung, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Kirche und Glauben nehmen dabei eine nachgeordnete Position ein, die sich um das Seelenheil der Menschen verdient machen sollte, und deren Mission im Unterschied zu außerkirchlichen, karitativen Einrichtungen auf ein Leben im Zeichen Gottes gerichtet ist.
Der Gedanke der caritas bleibt dabei eng an Ganzheitsvorstellungen gebunden, die sich im Kult um Heilige und das Bemühen um ein möglichst heiliges Leben wiederfindet. Als heilig gilt allgemein das, was sich durch besondere Nähe zu Gott auszeichnet. Entsprechend leitet sich das Wort „heilig“ etymologisch von „heil“ („ganz“) ab, das als ganzheitliche Verschmelzung mit Gott gedacht wird. Hierbei können jenseitsgerichtete Aspekte von mehr diesseits orientierten unterschieden werden: Die Einswerdung des bedürftigen Menschen mit Gott ist nicht nur nach dem Tod, sondern bereits zu Lebzeiten vorstellbar. Denn aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott ist Heiligkeit bereits von vorne herein in jedem Einzelnen angelegt. Als Gradmesser für die Heiligkeit des eigenen Lebens kann die Orientierung an Jesus gelten, der als Gott in Menschengestalt ein ideales Leben vorbildhaft verkörpert.
Sein selbstloses Denken und Handeln wird als Ideal verehrt, das als größtmögliche Nähe zu Gott (nämlich der Identifikation mit diesem) und somit als vollendete Ganzheit gefeiert wird. Jeder Mensch ist demnach mehr oder weniger heilig, je nachdem wie stark er sich an den vorgelebten Regelkanon hält. Die lange geschürte Angst, posthum in Höllenqualen seine Sünden abbü.en zu müssen um Gott wieder nahe zu kommen, wurde dabei durch das beruhigende Gefühl allgegenwärtiger Heiligkeit und Gottesnähe rationalisiert.
Auch Eva Brenners Kunstprojekt „heilig, jetzt! No. 1“ feiert in der Nürnberger Frauenkirche die Heiligkeit jedes Einzelnen anstatt ein mittelalterlich-pessimistisches Bild der Sündhaftigkeit der Welt zu zeichnen. Wie ein bunter Kokon schwebt ihre Figur über einer vakanten Konsole nördlich vom Chor und reiht sich somit unter die älteren Heiligendarstellungen des Chorraumes. Im Gegensatz zu diesen in den 1360ern von Patriziern gestifteten Darstellungen Mariae, Johannes des Täufers, der Heiligen Drei Könige und der Heiligen Wenzel und Ludmilla lässt sich Brenners Figur jedoch nicht als eine bestimmte Heiligenpersönlichkeit identifizieren. Bewusst wurde auf Attribute verzichtet und die Figur auf eine geometrisch-abstrakte Zylinderform reduziert, deren 2 ungewöhnliche Machart zunächst irritiert. Statt sie aus einem Steinblock herauszumeißeln setzte Eva Brenner ihre Heiligenfigur aus dem Bildervorrat der monatlich erscheinenden Kunstzeitschrift art zusammen: Die während einer Dekade (1982-1992) abgebildeten Heiligendarstellungen wurden feinsäuberlich mit dem Skalpell exzerptiert und nach Entstehungsdatum des jeweils abgebildeten Kunstwerks geordnet um gemäß der kompositorischen Kriterien von warm nach kalt und dunkel nach hell zusammengefügt zu werden. Das anschließende Einschweißen in Folie bewirkte nicht nur eine Stabilisierung der papierenen Ausschnitte, sondern erinnert an eine Versiegelung des „Bilderschatzes“ ähnlich einer musealen Archivierung zur Erhaltung für die Nachwelt. Schließlich wurden die Folien an den Ecken aneinander genietet um so die zylindrische Form zu bilden, die durch eine glänzende Aureole zur Ikone geadelt wird. Der Heiligenschein entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch nicht als mystisch schillernder Edelstoff, sondern als laminierter Zivilisationsmüll. Ihre Konstruktion aus alltäglichem Bild- und Abfallmaterial entmystifiziert Brenners Heiligenfigur und macht sie dadurch zur profanierten Version der benachbarten Heiligenskulpturen des Chors.
Die Nichtfestlegbarkeit auf eine bestimmte Persönlichkeit und die Leere im Inneren verleihen der Figur zudem etwas Transitorisches und lassen sie als Platzhalter erscheinen. Entsprechend zeigt ein kleiner Monitor ihr wechselndes „Gesicht“. Im Endlosloop werden Porträts von Menschen eingeblendet, sie sich für Eva Brenners Projekt hatten fotografieren lassen. Indem der Porträtierte der anonymen Heiligenfigur sein Gesicht „leiht“ und dieses auf dem Bildschirm erscheint, schlüpf er im übertragenen Sinne in Brenners Kokonform hinein. So wird ihm sinnbildlich die Hülle des Heiligen übergestreift und die vormals leere Hülle gleichzeitig zum individuellen Abbild transformiert, das den Porträtierten nun selbst als Heiligen auftreten lässt. Seine persönlichen Schicksalsschläge und Bewältigungsstrategien treten dabei neben Martyrium und Willensstärke der kanonisch verehrten Heiligen. Im Kirchenraum erlangt der Porträtierte damit nicht die von Andy Warhol prognostizierten fünf Sekunden Berühmtheit, sondern er erscheint für einen kurzen Moment in der ganzen Heiligkeit seines eigenen Lebens. Die Frage nach der Legitimation (Kann jeder ein Heiliger sein?) endet also in der Feststellung der Ganzheit individuellen Lebens (Jeder einzelne ist bereits heilig!).
Eva Brenner spielt hier mit der Idee des Multiples. Obwohl sie nur ein einziges Objekt in der Frauenkirche anbringen ließ, bringt sie mit der immer selben Form eine Vielheit von Heiligenfiguren in den sakralen Raum. Dies gelingt durch die Verbindung von individuellem Porträt und allgemein gehaltenem Korpus; die unterschiedlichen Lebensgeschichten der auf dem Monitor Abgebildeten korrespondieren dabei jeweils mit entsprechenden Fragmenten der bilderreichen Zylinderform. Die Hülle aus laminierten Abbildungen wird damit zur Couture, die sich an den individuellen Körper und das Leben ihres Trägers (bzw. den Porträtierten) anschmiegt. Das „Kleid“ der gelernten Schneiderin Eva Brenner passt dabei prinzipiell jedem, weil der Korpus ihrer Figur aus dem abstrakten Stoff der (Kunst-) Geschichte gewebt wurde, mit dem sich jeder identifizieren kann, der daran glaubt.